Leitartikel von

Di Dr. Gernot
Tilz

Gutachterliche Be-wertung von Bauteilen und Bauwerken mit Kennzahlen als Glaubensfrage

„Der Hoch- und Tiefbau ist zu komplex geworden, um Konstruktionen nach Normen planen, errichten und bewerten zu können.“ Dies meint der Bauexperte DI Dr. Gernot Tilz, seines Zeichens Baumeister und gerichtlich beeideter Sachverständiger. Sabine Bergmann führte mit ihm das folgende Gespräch.

Sehr geehrter Herr Dr. Tilz, Sie haben sich in einer Abfrage des Sachverständigen-Verbandes für Kennzahlen, die Errichtungskosten von Bauwerken und Bauteilen betreffen, öffentlich und kritisch geäußert und sind damit auf Zuspruch gestoßen. Was war Ansinnen Ihrer Kritik?

Tilz: Ich muss hier etwas weiter ausholen und möchte die Rolle des Sachverständigen kurz umreißen: Grundlegend ist ein Bauprozess ein Gutachterprozess. Damit meine ich, dass der Gutachter dem Richter als Erfüllungsgehilfe zur Verfügung steht, da der Richter im Fachgebiet „Bau“ sprichwörtlich „Laie“ ist. Um sich ein Bild und eine Meinung über die Sachlage zu machen, bedient er sich eines Sachverständigen. Dieser hat die Aufgabe, Kraft seiner Erfahrung und Kenntnis fachlich zu beraten. Und hier sehe ich die besondere Verantwortung in der Leis­tung des Gutachters.

 

 

Bauexperte DI Dr. Gernot Tilz, Baumeister und gerichtlich beeideter Sachverständiger

Das ist verständlich. Warum sehen Sie es jedoch kritisch, den Sachverständigen mit „Kennzahlen“ auszustatten, um einen Schaden oder ein Bauwerk zu bewerten?

Tilz: Ich befasse mich mit dem Bauwesen seit rund 20 Jahren in unterschiedlichen Funktionen und Bereichen. Ich meine, ich habe mich durch meinen Werdegang besonders interdisziplinär entwickelt. Durch meine Erfahrung, auch als Sachverständiger, sehe ich das Bauwesen aber nicht als kennzahlengetriebene Sparte in der Wirtschaft. Was meine ich damit? Jede Bauaufgabe, jedes Objekt, jede Konstruktion bedarf individueller Ansätze. Alle Versuche, „aus der Retorte“ zu bauen, sind fehlgeschlagen. Selbst in der Sparte des Filialistenbaues, also die Errichtung von Filialen für Handelsketten, die im Anschein systematisiert und ident wirken, ist jede Aufgabe individuell und eigenständig geplant. Was bedeutet das für die Bewertung von Kosten? Jede Bauaufgabe hat eigenständige Konzepte, Entwürfe, Konstruktions- und Entwicklungsmerkmale und – selbstverständlich – ein individuelles Budget und Kostenansätze.

Sie meinen damit, Bauwerke lassen sich nicht in „Kennzahlen“ klassifizieren?

Tilz: Es ist wie immer eine Frage des Maßstabes. Selbstverständlich sind gewisse Klassifizierungen möglich. Je detaillierter aber die Betrachtungsweise und der Maßstab sind, desto weniger ist die Kennzahl für die Bewertung von Kosten repräsentativ, sondern die Detailbetrachtung unter Berücksichtigung aller budgetrelevanter Einflüsse. Ich denke, dass gerade bei einem Gerichtverfahren die höchsten Maßstäbe anzusetzen sind. Kennzahlen gehören mit Sicherheit nicht dazu.

Was leiten Sie davon ab?

 Tilz: Das bedeutet für mich, dass ein Gutachter eigenständig in der Lage sein muss, Kraft seiner Erfahrung und seines Wissens kalkulatorische Werte und Herleitungen zu wählen. Ich lehne es ab, dass Gutachter mit Kennzahlen oder Pauschalangaben über Kosten Konstruktionen, Bauteile und Liegenschaften „überschlägig“ bewerten.

 

Das klingt einleuchtend. Aber jeder Partei ist es doch frei, auch mit einem Gegengutachten zu antworten?

Tilz: Ja, Sie haben – theoretisch – recht. In der Praxis ist es jedoch so, dass das Privatgutachten der Gegenpartei nur bedingt Überzeugungskraft hat. Grundlegend besteht die Möglichkeit, auf ein Gerichtsgutachten mit einem Privatgutachten zu reagieren. Es ist aber so, dass der Gegenbeweis oft langwierige und aufwändig ist.

Was können Sie Streitparteien empfehlen?

 Tilz: Ich sehe es grundlegend so, dass ein Gerichtsprozess stets nur der letzte Ausweg sein sollte. Ich habe äußerst gute Erfahrung damit, im Zusammenwirken mit mediativen und deeskalierenden Rechtsanwälten eine außergerichtliche Lösung – auch bei komplexen und großen Streitsummen – zu erwirken. Das hat zumeist auch den Vorteil, dass die Verfahren kürzer und in Summe günstiger sind, auch wenn es derzeit am Markt kaum gelebt wird. Sollte der Weg kein fruchtbares Ergebnis bringen oder unerwünscht sein, bleibt nur das Gerichtsverfahren. Hier rate ich dringend an, einen baunahen Sachverständigen mit konstruktiver Ausbildung zu wählen. Viele Sachverständige ziehen sich zunehmend auf das Normenwerk zurück oder sind sprichwörtlich „zu weit weg vom Markt“. Ich sehe das Zitieren von Normen und das Bewerten von Problemfällen ohne Praxisbezug jedoch nicht als gutachterliche Leistung. Wir unterstützen z.B. unsere Ansätze zunehmend und vertieft mit Ist-Daten. Diese erhalten wir aus einer eigenen Messtech­nikabteilung, und sie erlauben uns eine ganz andere Aussagekraft als das  bloße Zitieren von Normen. Ich kann hier wiederum nur einen meiner Leitsätze anführen: Der Hoch- und Tiefbau ist zu komplex geworden, um Konstruktionen nach Normen planen, errichten und bewerten zu können.

Das klingt alles sehr vielversprechend und verständlich.
Herr Dr. Tilz,
danke für das Gespräch.

hausleitner